Sie mag es, wenn ihr Körper in Schwierigkeiten gerät. Sie pusht sich immer weiter – bis über die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit hinaus. Und weil das ein schmaler Grat ist, hört die französische Skibergsteigerin Laëtitia Roux vor allem auf eins: auf ihr Gefühl.

 

Laëtitia, du bist in Savines-le-Lac in den französischen Alpen aufgewachsen. Was sind deine Erinnerungen an die Kindheit?

Als Kind war ich sehr aktiv und habe mich den ganzen Tag draußen aufgehalten. Im Alter von drei Jahren hat mich mein Vater zum Skifahren mitgenommen. Außerdem war ich viel auf dem Mountainbike unterwegs und beim Windsurfen. Deshalb habe ich unzählige, schöne Erinnerungen an die Zeit meiner Kindheit.

Du hast einmal gesagt, dein Vater habe dir bestimmte Werte mit auf den Weg gegeben. Welche Werte sind das?

Mein Vater hat mir schon als Mädchen erklärt, wie wichtig es ist, Respekt vor der Natur zu haben. Außerdem hat er meinen Wettkampfgeist unterstützt, ohne mich allerdings zu Wettkämpfen zu drängen. Für ihn war es einfach nur ein spezieller Moment, wenn wir gemeinsam den Gipfel erreichten. Und ich habe die Aufstiege immer genossen – auch dann, wenn ich mich durch schweren Schnee kämpfen musste.

»Hier draußen gibt es nichts Künstliches.«

Laëtitia Roux

Ausdauersportarten sind anstrengend und weniger spaßorientiert als andere Sportarten. Warum hast du das Skibergsteigen zu deinem Lebensinhalt gemacht?

Du bist weit entfernt von der Hektik der Städte. Es ist die pure Natur, so friedlich. Hier draußen gibt es nichts Künstliches. Ich selbst habe mit dem Alpinski-Fahren begonnen, aber heute möchte ich gar nicht mehr auf eine Piste. Dort sind so viele Menschen, es ist laut, Lifte zerschneiden die Landschaft. Stattdessen zieht es mich in die unberührten Berge.

Warum ist das so?

Hier bin ich alleine auf mich gestellt, nur hier fühle ich die Energie, die in mir steckt. Du genießt die Freiheit, kannst tun, was du möchtest, dir deine eigene Route suchen. Gleichzeitig musst du die Gefahren erkennen und dich mit deiner Umgebung arrangieren. Diese Kombination aus Selbstbestimmung und Anpassung an die Realität macht das Skibergsteigen so interessant. Du stehst auf keinem Tennisplatz. Die Natur ist niemals gleich, der Schnee verändert sich, die Wetterbedingungen sind anders, jeden Tag befindest du dich in einer neuen Umgebung und entdeckst sie auf deine eigene Weise.

 

 

Das aufregende Umfeld der Berge ist die eine Sache. Aber was ist der Reiz daran, sich immer wieder bis zur eigenen Leistungsgrenze zu verausgaben?

Wenn man an seine Grenzen geht, weckt das neue Emotionen und Gefühle. Ich liebe es, physisch aktiv zu sein, mich zu überwinden und immer wieder selbst zu übertreffen. Auch, wenn es weh tut – will ich trotzdem weitermachen. Du musst dich mental auf deinen Körper einlassen, um dich wirklich pushen zu können. Du spürst, dass dein Körper in Schwierigkeiten ist. Dieses Gefühl musst du positiv annehmen, dann spürst du die Grenze deiner Leistungsfähigkeit. Je besser du dieses Gefühl kennst, desto einfacher kannst du dich weiterentwickeln.

Erinnerst du dich an einen besonders emotionalen Moment in den Bergen?

Ich erinnere mich an einen Tag, als ich mit meinem Kollegen Kilian Jornet auf dem Gipfel des Mont Blanc stand. Es ist der höchste Punkt der Alpen, die Aussicht ist phänomenal, das geht dir wirklich nahe.

Wenn man sich regelmäßig intensiven Gefühlen aussetzt … besteht da nicht die Gefahr, dass man süchtig wird nach besonderen Momenten?

Das stimmt, es ist schon eine Art Droge. Auch, wenn dein Körper an schwierigen Stellen einer Route Adrenalin ausschüttet, sind das extreme Emotionen. Trotz Euphorie musst du aber immer das Risiko vor Augen haben, das du auf zweierlei Weise spüren kannst: Einerseits fühlst du Unbehagen, weil dein Gehirn dir mitteilt, dass du in Gefahr bist. Andererseits kontrollierst du deine Bewegungen und verwandelst das Gefühl der Angst in positive Spannung. Wichtig dabei ist es, gut trainiert zu sein, um in einer technisch anspruchsvollen Situation nicht gleichzeitig das körperliche Limit zu erreichen.

 

»Tief in uns haben wir alle die gleichen Wünsche und Ambitionen.«

Laëtitia Roux

 

Gab es Situationen, in denen du es übertrieben hast?

Ohja … die gab es immer wieder. Manchmal kann dein Körper den Stress einfach nicht mehr akzeptieren. Dann werden die Schmerzen zu groß, und du musst abbrechen, sonst würdest du eine Verletzung riskieren. Ich habe mich auch schon verletzt, weil mein Wille meinen Körper in eine Überbelastung gepusht hat.

Ist das die Kunst? Sich immer wieder so nahe wie möglich an seine Limits heranzutasten, um besser zu werden … ohne zu überdrehen?

Im Bereich der Top-Athleten ist die Luft sehr dünn. Die Leistungsunterschiede sind gering, es kommt auf jedes Detail an. Deshalb musst du exakt spüren, wie weit du gehen kannst, um ganz vorne dabei zu sein. Es sind Nuancen, aber genau die machen den Unterschied. Du musst sie fühlen und dich an sie herantasten. Körperlich und mental. Im Training wie im Wettkampf.

Tauscht du dich darüber auch mit anderen Athleten aus? In erster Linie ist Skibergsteigen ja ein Sport für Einzelkämpfer …

Ich habe immer viel alleine trainiert, was auch okay ist. So kannst du dich auf dich selbst und auf deine persönlichen Ziele fokussieren. Aber du musst dich mit anderen Athleten vergleichen – und das nicht nur im Wettkampf. Von den anderen lernst du, wie sie sich motivieren. Du siehst, wie sie sich verhalten, was sie über sich erzählen, welche Emotionen sie haben. Das ist unglaublich wertvoll für das eigene Training. es sind verlässliche Informationen, die du für dich nutzen kannst. Ich mag es, die Ambition der anderen zu fühlen. Ich will sehen, wie sie sich motivieren. Es erinnert dich daran, warum du das tust. Weil es zwar hart ist – dich aber gleichzeitig glücklich macht.

Funktioniert das auch in anderen Sportarten?

Es kommt nicht darauf an, welchen Sport du betreibst, wer du bist, und was du tust. Tief in uns haben wir alle die gleichen Wünsche und Ambitionen. Diese zu erkennen und zu leben, ist ein großes Glück. Und für mich ist Sport einfach essentiell. Zu Beginn meiner Karriere war ich fast ein wenig verbissen, es war Teil meiner Persönlichkeit. Mit der Zeit habe ich aber gelernt, mich auszuleben und meinen Wettkampfgeist mit anderen auf positive Weise zu teilen.

 

Interview by Axel Rabenstein published in SPORTaktiv 08/2017

LAËTITIA ROUX WURDE AM 21. JUNI 1985 IN SAVINES-LE-LAC IN DEN FRANZÖSISCHEN ALPEN GEBOREN. IM ALTER VON NEUN JAHREN BEGANN SIE MIT DEM SKIBERGSTEIGEN. IHREM ERSTEN RENNEN IM JAHR 2005 FOLGTE DIE AUFNAHME INS FRANZÖSISCHE NATIONALTEAM. 2007 WURDE SIE EUROPAMEISTERIN IM „INDIVIDUAL“ SOWIE „VERTICAL RACE“. IN DEN JAHREN 2010 UND 2011 WURDE SIE JEWEILS WELTMEISTERIN UND 2012 ERNEUT DOPPEL-EUROPAMEISTERIN. AUSSERDEM GEWANN SIE PRESTIGETRÄCHTIGE RENNEN WIE DIE „PATROUILLE DES GLACIERS“ (2012), „PIERRA MENTA“ (2011) ODER DIE „TROFEO MEZZALAMA“ (2009). LAËTITIA ROUX IST LEDIG UND LEBT ZUMEIST IN LA CLUSAZ. (FRANKREICH).

@LAETITIAROUX

 

Photos: Laëtitia Roux